Das Haus ohne Türe

von Susanne Firgau

Über einer Stadt, die nahe an einem Fluß gelegen war, verdunkelte sich eines Tages der Himmel wie von einer großen Wolke. Ein riesiges Ungeheuer kam dahergeflogen und ließ sich gerade dem Schlosse gegenüber auf einem kleinen Berge nieder. Dort rollte es sich zusammen, steckte den Kopf unter die Flügel und schlief ein.

Die Bürger der Stadt hatten sich eiligst in ihre Häuser verkrochen, als aber nichts geschah, kamen sie vorsichtig einer nach dem andern hervor, und bald standen alle um den kleinen Berg und starrten erschrocken und voller Grauen zu dem schlafenden Drachen hinauf. Der war häßlich genug anzuschauen. Ein grüner Schuppenpanzer bedeckte den ganzen mächtigen Leib, und eine lange Reihe spitzer Zacken lief vom Hals über den Rücken hinunter bis zum Schwanz. Auf der Stirn ragten sieben lange Hörner, und der Atem ging ihm so heiß aus den Nüstern, daß weit und breit das Gras verdorrte. Keiner wagte sich an das Ungeheuer heran, das viele Tage dalag und schlief.

Der König war voller Sorge, was geschehen würde, wenn es erwache; und da es unmöglich schien, es zu töten, weil der feste Schuppenpanzer es wie ein Schutzwall umgab und sich auch niemand fand, der Mut und Kraft genug hatte, das Untier anzugreifen, rief er in Eile alle Maurer und Baumeister zusammen und befahl ihnen, so schnell als möglich ein großes Haus um den schlafenden Drachen zu bauen.

Alle Einwohner der Stadt, jung und alt, halfen mit. Die einen schleppten schwere Steine herbei, andere rührten Sand und Mörtel um, und die Handwerker zimmerten, kitteten und bauten eine immer höhere Mauer rund um den Drachen herum. Nach neun Tagen stand da ein festes Haus ohne Türe, nur oben unter dem Dach hatten sie zwei Fenster gelassen, eines nach Westen und eines nach Osten.

Die Handwerker zogen ab, und alles wartete ängstlich, was nun geschehen werde. Aber Tage, Wochen und Monate vergingen, und nichts ereignete sich. Bald glaubte man, das Ungeheuer sei gestorben. Und als Jahre darüber verstrichen, war der Drache vergessen. Nur das hohe, dunkle Haus stand da, solange einer denken konnte, mit seinen beiden Fenstern, dem einen nach Osten und dem anderen nach Westen, und manche Sage ging um diesen merkwürdigen Bau.

Da, eines Tages, erscholl ein mächtiges Gebrüll aus dem hohen Turm, daß der Erdboden erbebte, und nun erinnerten sich die Alten an das eingeschlafene Ungeheuer. Das Gebrüll aber nahm kein Ende, Tag und Nacht, und niemand konnte mehr Ruhe finden. Endlich begann die Stimme zu sprechen: „Mich hungert! Bringt mir die schönste Jungfrau des Landes oder ich verwüste die Stadt!“ Obwohl alle große Angst hatten, glaubte doch niemand, daß das gefangene Ungeheuer solches vermöge. Doch am dritten Tage tat sich die Erde auseinander, ein feuriger Strahl schoß hoch empor, und Asche, Schwefel und glühende Steinmassen regneten ohne Unterlaß auf die Stadt herunter. Nun erhob sich großes Wehklagen, und endlich blieb kein anderer Ausweg mehr, als der Stimme zu gehorchen. Die schönste Jungfrau des Landes wurde mit langen Leitern zu einem der Fenster gebracht. Dort ergriff sie eine Krallenhand und zog sie in den Turm, und im selben Augenblick hörte der Feuerregen auf, die Erde schloß sich, und alles war still wie zuvor.

Als aber ein Jahr vergangen war, erscholl wieder die furchtbare Stimme, forderte die schönste Jungfrau und drohte, die Stadt zu vernichten. Und wirklich, da trat der Fluß über seine Ufer, schwoll immer mehr an, und bald ergoß sich eine große Wasserflut durch die Straßen. Wieder mußte das schönste Mädchen geopfert werden, die Stadt zu erretten.

Nun hatte der König eine einzige Tochter, und als wieder ein Jahr um war, war sie zur Jungfrau herangewachsen und die Schönste weit und breit. Da sah der alte König, daß sie das nächste Opfer sei, das das Ungeheuer fordern werde, und ließ bekanntmachen, wer die Stadt von dem Drachen erlöse, solle seine Tochter zur Frau haben und das Königreich nach seinem Tode.

Nun versuchten viele ihr Glück. Die tapfersten Ritter kamen von nah und fern und stiegen zu den beiden Fenstern hinauf. Aber sie verschwanden alle in dem Turm und kamen nie mehr zurück.

Bald hatte keiner mehr Mut, es mit dem Drachen aufzunehmen, und der Tag, an dem die Stimme erscholl, rückte immer näher.

Um diese Zeit zog ein junger Bursche durch die Gegend. Er kehrte in einer Herberge ein und erfuhr bald von der großen Not, in der sich das Königreich befand. Am andern Morgen trat er vor den König und sagte, er wolle die Stadt von dem Drachen befreien. Neben dem König saß die liebliche Königstochter, so fein und schön, wie der Bursche nie etwas Schöneres gesehen hatte. Sie lächelte ihn traurig an, und große Tränen standen in ihren Augen.

Am selben Tage noch wanderte er zu dem Berge hinauf und ging ein paarmal nachdenklich um den Turm. Er lauschte, aber innen war alles still. Da setzte er sich auf einen Stein, stützte den Kopf in die Hände, denn er wußte nicht, wie er unbemerkt in den Turm gelangen sollte.

Während er so dasaß, kam ein altes Weiblein den Berg hinauf gehumpelt, grüßte ihn und bat ihn um ein kleines Almosen. Der Bursche, der ein mitleidiges Herz hatte, gab ihr seinen letzten Kreuzer. Da sprach die Alte: „Zum Dank nimm dieses Wunderkäpplein. Wenn du es aufsetzt, kannst du dich in jedes Tier verwandeln!“ Dann war sie plötzlich verschwunden.

Der Bursche hielt das Käpplein nachdenklich in den Händen, als er eine Maus in einem Erdloch nahe der Mauer verschwinden sah. Schnell setzte er das Käpplein auf, wünschte selbst eine Maus zu sein und schlüpfte hinterher. Er mußte durch einen langen Erdgang kriechen, so eng und schmal, daß eben nur ein Mäuslein hindurch konnte. Endlich sah er ein schwaches Licht, das war das Ende des Ganges. Und wie er vorsichtig das graue Köpflein aus dem Ausgang steckte, bemerkte er, daß er sich im Innern des Turmes befand. Wie erstaunte er da, denn im Halbdunkel der alten Mauer lag auf dem Erdboden eine riesige, grünschuppige Drachenhaut mit langer Zackenreihe, und auf der Stirne ragten sieben lange Hörner. Oben drauf lag eine wunderschöne schlafende Jungfrau, ganz und gar von ihrem langen, goldenen Haar umgeben.

Der Bursche nahm sein menschliche Gestalt wieder an, weckte die Jungfrau und sprach: „Wer bist du und wie kommst du hierher?“ Die Jungfrau erschrak sehr, als sie den Mann erblickte, hüllte sich ganz in ihre Haare ein und begann zu weinen. „Ach“, sagte sie, „ich bin ein arme, verzauberte Prinzessin. Mein Vater war ein mächtiger König. Nach seinem Tode erbte ich mit meiner Schwester das Reich, und wir lebten lange Zeit zufrieden und glücklich zusammen und teilten uns in alles, bis eines Tages ein benachbarter Königssohn kam, und um meine Hand warb, der auch meiner Schwester gefallen hatte. Sie wurde zornig, ließ meinen Bräutigam heimlich umbringen, und mich verwandelte sie in einen häßlichen Drachen, denn sie hatte von unserem Vater die Zauberkunst erlernt. Wenn es dir gelingt, drei goldene Haare von ihr zu bekommen, so kannst da mich erlösen, wenn du mich damit berührst. Aber es ist sehr schwer. Das Schloß liegt am Ende der Welt auf einem hohen, steilen Berge, den kein Mensch besteigen kann. Und selbst wenn du hinauf gelangst, so wird es unmöglich für dich sein drei Haare zu gewinnen, denn meine Schwester schläft niemals und ist eine starke, mächtige Zauberin.“ Als sie gesprochen hatte, warf sie eilends die Drachenhaut über.

Der Bursche aber hatte genug erfahren. Schnell verwandelte er sich wieder in eine Maus und verließ den Turm.

Nun wanderte er Tag und Nacht durch viele Länder, über Berge und Täler, aber immer noch nicht war er am Ende der Welt. Da eines Tages kam er in eine wilde und öde Gegend; weit und breit nichts als Sand und Steine, und auf einem Berge mit rundherum senkrecht abfallenden schwarzen Felswänden stand ein wunderschönes Schloß. Die Königstochter aber fuhr in einem Wagen, der mit fünf schwarzen Pferden bespannt war, Tag und Nacht in schwindelnder Höhe immer drum herum.

Da verwandelte sich der Bursche in einen Adler, schwang sich hoch über den Felsenberg und stürzte dann jäh auf die Prinzessin herab, ergriff ein goldenes Haar mit dem Schnabel und riß es aus. Die Prinzessin schrie laut auf, sprang aus ihrem Wagen und verwandelte sich in einen riesigen Vogel. Nun verfolgte sie den Adler in wildem Flug bis hinauf in die Wolken, dort erreichte sie ihn und verwundete ihn am Flügel, daß er in die Tiefe und gerade ins Meer stürzte. Schnell nahm der Bursche die Gestalt eines Fisches an, tauchte bis auf den Grund, aber die Königstochter hatte sich in eine große Wasserschlange verwandelt, folgte dem Fisch und ringelte sich auf ihn zu. Dieser nahm all seinen Mut zusammen, schnellte auf die Schlange zu und riß ihr das zweite goldene Haar aus. Dann tauchte er an die Oberfläche und schwamm auf das Ufer zu. Doch die Schlange holte ihn ein und umringelte ihn mit ihrem langen Leib, daß er kaum mehr atmen konnte und glaubte, sein letztes Stündlein habe geschlagen. Die Schlange aber schleppte ihre Beute an Land. Kaum spürte der Bursche den Boden unter sich, entschlüpfte er in Gestalt eines Fuchses und rannte ein Stück davon. Als er sich umblickte, sah er, wie ihm die Prinzessin als ein feuerschnaubender Stier folgte und gerade mit gesenkten Hörnern auf ihn zu kam. Schnell machte er eine Wendung, sprang dem Stier auf den Kopf und riß ihm das dritte goldene Haar aus.

Da ertönte ein mächtiger Donnerschlag, und der Bursche verlor die Besinnung. Als er wieder zu sich kam, sah er, wie die Prinzessin sich über ihn beugte und sprach: „Du hast mich besiegt, nimm die drei Haare und erlöse meine Schwester. Ich will von nun an in Frieden mit ihr leben.“ Dann schenkte sie ihm viele Kostbarkeiten, Gold und Edelsteine, und er machte sich auf den Weg.

Wieder mußte er Tage und Nächte reiten, bis er in die Stadt kam. Hier herrschte große Trauer. Alle Häuser waren mit schwarzen Tüchern verhängt. Der junge Bursche, den niemand in seinen prächtigen Kleidern erkannte, fragte, was das bedeute. Da sagte man ihm, daß morgen der Tag sei, an dem der Drache sein Opfer fordere.

Am nächsten Morgen ertönte auch wirklich die furchtbare Stimme, daß der Erdboden erzitterte, und alle Bürger der Stadt erhoben ein großes Wehklagen.

Der Bursche aber eilte auf den Berg, bestieg die Leiter zu einem der Fenster. Als das Ungeheuer nach ihm greifen wollte, berührte er es schnell mit den drei goldenen Haaren, und die Königstochter mit dem goldenen Haar stand vor ihm und sprach: „Du hast mich erlöst, die Reichtümer, die mir und meiner Schwester gehören, sind von nun an dein.“ Da öffnete sich von selbst das Dach weit, und die Jungfrau schwang sich als ein bunter Vogel hinaus und flog davon.

Inzwischen bewegte sich ein langer Trauerzug den Berg hinauf, an der Spitze der König mit seiner Tochter an der Hand. Wie groß war die Freude, als sie sahen, daß die Stadt von dem Drachen befreit war. Der König umarmte den jungen Burschen, und am selben Tage feierte er die Hochzeit mit der Königstochter in aller Pracht. Nach dem Tode des alten Königs erbte er das Reich und lebte lange mit seiner Frau glücklich und zufrieden.