Mitternachtsmärchen

von Susanne Firgau

Es war einmal ein Dichter, der saß in der Nacht am Fenster, hoch oben in einer kleinen Dachkammer, und war traurig. Er schaute hinaus in die Dunkelheit und dachte an seine Geliebte, die ihn verlassen hatte. Hinter ihm knisterte das Feuer im Ofen, und alles lag in großer Unordnung herum, aber das sah man nicht, denn auch im Zimmer war es dunkel, nur in der Ecke dem Ofen gegenüber tanzte unruhig der Schein des Feuers.

Da schlug es Mitternacht vom Turme unten in der Stadt, und der Dichter stand auf und öffnete das Fenster. Die kalte Winterluft strömte herein, aber er bemerkte es nicht, denn er war mit seiner großen Traurigkeit beschäftigt. Er beugte sich hinaus und schaute auf die dunkle Straße. „Ich liebte sie so sehr“, sagte er, „aber sie wird nie mehr kommen, mich zu besuchen.“

Die letzten Glockenschläge waren gerade verhallt und alles still und ruhig; da schien es, als tauche mitten im sternenlosen Himmel ein heller Punkt auf, der sich schnell zu einer kleinen, rosigen Wolke vergrößerte, die schnurstracks auf das offene Fenster zu schwebte. Direkt neben der Fensterbank hielt sie an, und eine kleine, niedliche Prinzessin stieg aus, wie man aus einer Kutsche aussteigt, und setzte sich auf den Rand einer der leeren Blumenkästen.

„Ich bin eine Märchenprinzessin“, sagte sie, „und du bist ein Dichter. Ich will dir etwas erzählen!“ Es war wirklich eine allerliebste Prinzessin mit einer richtigen Perlenkrone im Haar. Aber der Dichter sah sie gar nicht. „Störe mich nicht, ich bin so traurig“, murmelte er und starrte weiter auf die Straße hinunter. „Ach“, sagte die Prinzessin, „das ist schlimm. Wirklich, es hat sich schon ein ganz dichter Schleier um dich gelegt.“ „Was sagst du da?“ rief der Dichter erschrocken und schaute sie zum ersten Male an, dabei fuhr er unwillkürlich mit der Hand über die Augen. Da fühlte er etwas zwischen den Fingern, und wie er fest hinfaßte, war es ein feines graues Gewebe, wie aus Spinnweben, das sich langsam löste und zum Fenster hinausschwebte. „Was war denn das?“ „Das ist immer so“, sagte das niedliche kleine Prinzeßchen, „Wenn die Menschen traurig sind oder auch, wenn sie wütend und böse sind, bilden sich diese feinen, grauen Gewebe, die sich ihnen fester und fester über die Augen und um die Herzen legen. Sie sind nicht immer so leicht zu lösen wie bei dir.“

„Ach, endlich wird es Tag!“ ertönten feine Stimmchen aus dem dunklen Zimmer, und als der erstaunte Dichter sich umdrehte, sah er, wie in einem Korb alle Kartoffeln die Ärmchen streckten und herzhaft gähnten.

„Meine Damen, lassen Sie sich doch nicht so gehen!“ ließ sich eine dicke Zwiebel vernehmen, die zwischen ihnen lag. „Sie haben wirklich zu erdhafte Angewohnheiten!“ Die kleine Prinzessin schaute neugierig zum Fenster herein und lachte. „Was ist denn das?“ sagte der Dichter. „Übrigens hat es gerade Mitternacht geschlagen. Von Tag-Werden kann hier noch gar keine Rede sein. „Bei uns schon“, erklärte die Zwiebel etwas von oben herab. „Sie müssen wissen, daß wir nur in der Mitternachtsstunde richtig wach werden.“

„Aber meine Herren!“ rief der Dichter erschrocken, denn alle rotglühenden Feuergeisterchen reckten die Köpfe aus dem Ofen. „Sie stecken mir die Stuben in Brand, möchten Sie nicht dort bleiben, wo Sie hingehören?“ „Wir wollen auch etwas sehen. Mache das Türchen ein wenig weiter auf! Außerdem soll die Prinzessin hereinkommen und mit uns spielen!“

Der Dichter machte das Ofentürchen weiter auf, und die Prinzessin stieg herein und setzte sich so auf die Fensterbank, daß ihre Beinchen ins Zimmer baumelten. „Das Fenster muß aber offen bleiben, sonst wird es mir hier zu eng.“

„Das ist eine höchst unbequeme Lage“, seufzte ein Buch, das aufgeschlagen mit dem Rücken nach oben lag. „Ich bitte doch, mir zu helfen!“

„Meine Tür steht auch schon seit drei Tagen offen, weil so ein Paar Socken heraushängen!“ brummte ein alter, brauner Schrank. „Ich werde mich vollständig verziehen und nicht mehr zu schließen sein. „Dem kann ja abgeholfen werden“, sagte der Dichter, und schnell legte er das Buch auf den Rücken und schloß die Schranktüre, nachdem er die Strümpfe hineingelegt hatte.

Ein Ding nach dem anderen wurde nun munter. Der Stuhl, der Tisch, die alte Kommode, die Holzscheitlein im Kasten neben dem Ofen stellten sich auf und machten nicht übel Miene auszusteigen.

„Ich habe ein Geheimnis“, begann ein großer, grünroter Apfel mit lockender Stimme, und alles horchte auf. „Fünf kleine braune Kernchen schlummern in mir.“ „Wir alle haben Geheimnisse“, sagte die Zwiebel, die wohl etwas hochmütig war. „Aber gebildete Leute geben das nicht gleich zum Besten. Man macht schließlich so seine Erfahrungen und kriegt mit der Zeit Häute. Darauf allein kommt es an.“

„Wissen ist besser als Erfahrung“, lispelte ein dickes, altes Buch, und eine lange Reihe gleicher Bände, alle mit rotschwarzen Lederrücken, nickten Beifall. „Die Dinge sind so und so, schon von jeher. Eine dicke Staubschicht darüber, und dabei bleibt es. Wir haben es schwarz auf weiß, und daran ist nichts zu ändern. Staub ist vornehm und garantiert für die Richtigkeit.“ Die zwanzig gleichen Bände nickten wieder und wurden ganz schmal vor Ehrfurcht.

„Ich hing hoch in einem grünen Baum“, fing der Apfel wieder an. „Den ganzen Sommer in Licht und Sonne, es war so schön, zu träumen und zu schaukeln.“

„In der dunklen Erde ist es besser“, sagte eine Kartoffel. „Dort ist es warm und sicher, und man kann in Ruhe Knollen ansetzen. Licht verdirbt den Charakter. Man kriegt die Schwindsucht, Triebe nennt man das, lange blasse Dinger, und dabei kommt man ganz von Kräften.“

„Am besten ist es, zwischen Himmel und Erde zu sein,“ sagte die Zwiebel. „Ich habe sieben Häute und sehe alles vom philosophischen Standpunkt.“

„Ach was, tick-tack, schnick-schnack“, sagte die Wanduhr. „Es kommt darauf an, daß man seine Pflicht tut. Entschuldigen Sie bitte einen Moment!“ Sie räusperte sich und schlug dann einmal. „Halb eins“, erklärte sie. „Ja, daß man seine Pflicht tut und pünktlich ist. Von mir zum Beispiel hängt alles ab. Was würde sein, wenn ich auf einmal stehenbleiben wollte. Glauben Sie mir, ich habe schon vieles gesehen, aber ich lasse mich nicht aus der Ruhe bringen. Ich darf weder Knollen kriegen noch Triebe, auch nicht anfangen zu träumen oder zu schaukeln, Ja du liebe Zeit, wo sollte das hinführen! Nein, pünktlich und zuverlässig sein ist das Wichtigste. Tick-Tack! Was meinen Sie?“ fragte sie den alten Eisenofen.

„Ich weiß nicht“, sagte dieser langsam mit dunkler Stimme. Ich bin geduldig und lasse alles über mich ergehen. Wir alle sind schließlich nur Gefäß. Es wird einem mal heiß, mal kalt. Man muß nur stark bleiben und sich nicht aus der Ruhe bringen lassen.“

„Ha, ha“, lachten die Feuergeisterchen innen und tobten wie toll auf und nieder, daß es prasselte und der Ofen einen ganz roten Kopf bekam. „Es wird uns zu eng, wir wollen hinaus. Freiheit, Luft! Wir können das ganze Haus anzünden, wenn wir wollen. Das wird lustig! Laß uns hinaus - hinaus!“

Der Ofen aber glühte und behielt die Fassung.

Dabei wurde es ordentlich warm im Zimmer, und der Dichter ging hin und küßte die Prinzessin auf den kleinen, rosenroten Mund. „Ich danke dir“, sagte er. „Wärest du nicht gekommen, um den Schleier von meinen Augen zu nehmen, hätte ich alles nicht erlebt.“ Die Prinzessin lachte ein silberhelles Märchenlachen und baumelte mit den Beinen. Die alte Kommode schob vor Erstaunen eine Schublade vor, und der Schrank runzelte entrüstet die Stirne, weil drei kleine Rokokostühle kicherten.

„Ich werde gleich Eins schlagen“, sagte die Uhr und räusperte sich.

„Auf Wiedersehen“, sagte die Prinzessin, stand auf und schaute hinaus. „Aber deine Wolkenkutsche ist ja fort!“ rief der Dichter erschrocken. „Was nun?“ „Oh, das macht nichts“, sagte die Prinzessin, „Schau dorthin!“ Und sie deutete hinauf zum Himmel. Dort sah man gerade zwei Sterne fallen, die leuchtende Streifen hinter sich herzogen wie kleine Kometen. Diese Streifen aber waren zwei silberne Seile, die die Prinzessin ergriff und zusammenknüpfte. Dann setzte sie sich auf den Knoten wie auf eine Schaukel, schubste sich von der Fensterbank ab und schaukelte immer höher und weiter in den Himmel, bis sie auf einmal verschwunden war.

„Eins!“ sagte die Uhr da, und dann schlug sie einmal. Unten aus der Stadt tönte dumpf der Glockenschlag vom Stadtturm.

Die Holzscheitlein legten sich lang - Die Kartoffeln gähnten, zogen die Ärmchen ein und machten die Augen zu. Der Schrank, die Kommode, das Buch, alles war wieder still und wie tot, nur die Feuermännchen im Ofen knisterten noch leise.

Der Dichter aber nahm Feder und Papier und begann eine Geschichte zu schreiben - eine wahre Geschichte, von den Dingen, die in der Nacht lebendig geworden waren.