Die Fischerhütte

von Susanne Firgau

Ein Königssohn nahm Abschied von seinen Eltern und sprach: „Ich will in die Welt hinausziehen und etwas sehen und lernen.“ „Ja, mein Sohn“, sagte der alte König, „deine Zeit ist gekommen. Ich wünsche dir, daß du das Beste findest und dir zu eigen machst.“ Und er gab ihm seinen Segen mit auf den Weg.

Der Königssohn wanderte viele Jahre durch alle Länder der Erde. Da er nun eines Abends müde auf seinem staubbedeckten Rößlein über die Straße trottete und daran dachte, daß gerade sieben Jahre herum seien und er das Beste, davon sein Vater gesprochen, noch nicht gefunden hatte, sah er, als sein Blick in die Ferne schweifte, etwas wie eine große Sonne auf einem hohen Berg leuchten. Nachdem er noch eine Stunde darauf zugeritten, erkannte er ein goldenes Schloß, aber noch so fern, daß er es vor der hereinbrechenden Nacht nicht mehr erreichen konnte.

Es wurde immer schneller dunkel, und weil er den Weg nicht verlieren wollte, stieg er ab, band das müde Tier an einen großen Baum am Straßenrand und legte sich selbst daneben ins hohe Gras. Das ferne Schloß leuchtete noch schimmernd zwischen den Blumen und Gräsern. Mit dem Wunsch, es am nächsten Tage zu erreichen, schlief er bald ein.

In der Nacht aber hatte er einen wunderbaren Traum: Auf einem weißen Pferde kam eine Jungfrau daher. Gerade an dem Baum hielt sie an, stieg ab und schritt auf den schlafenden Königssohn zu, der alles beobachtete, sich aber nicht rühren konnte. Sie beugte sich über ihn, und er sah in ihrem Haar sieben Sterne funkeln, und daß sie so wunderschön war, wie es nichts Schöneres geben konnte.

„Ich bin die Königstochter von Goldenen Schloß“, sagte sie, „und du sollst mein Gemahl sein.“

Als er am nächsten Morgen erwachte, stand die Sonne schon am Himmel. Rasch sattelte er sein braves Pferdchen, stieg auf und ritt fröhlich die Straße weiter, immer auf das Schloß zu, das weithin im Morgenlicht glänzte.

Gegen Abend kam er am Fuße des Berges an. Hinter ihm hatte die Nacht schon ihren dichten Schleier über den Weg gelegt, den er gekommen war, aber das Goldene Schloß leuchtete von der Höhe, daß die Dunkelheit keine Macht mehr hatte. Er gab dem Pferd die Sporen, und bald ritt er in den Burghof ein.

Wie erstaunte er, als er abstieg und vor dem wunderbaren Bau stand, der mit seinen höchsten Spitzen bis in die Wolken ragte und aus dessen offenen Toren und ungezählten Fenstern eine himmlische Musik ertönte. Während er lauschte, kamen zwölf Jungfrauen auf ihn zu, eine immer schöner als die andere. Nur trugen sie schmale Binden aus zarten Schleierstoffen über den Augen. Obwohl sie alle blind zu sein schienen, bewegten sie sich mit großer Sicherheit auf ihn zu, nahmen ihm die staubbedeckten Kleider ab, brachten ein kostbares Gefäß mit duftendem Wasser herbei, wuschen ihm Hände, Haupt und Füße, und nachdem sie ihm neue, herrliche Kleider angelegt, führten sie ihn an der Hand in das Innere des Schlosses.

Der ganze himmelragende Bau aber bestand nur aus einem einzigen, riesigen Saal, so hoch und weit, daß er kaum zu ermessen war. Hier schwebten zahllose Gestalten in kostbaren Gewändern über den durchsichtigen Boden. An der höchsten Stelle aber auf einem Sessel, von einem Rosenstock umrahmt, der ungezählte Blüten trug, saß die Königstochter vom Goldenen Schloß, wie der Prinz sie im Traum gesehen. Sie stand auf und kam auf ihn zu, und noch am selben Tage wurde die Hochzeit mit aller Pracht gefeiert.

Nun begann ein herrliches Leben. Ein Tag nach dem anderen ging dahin in Freude und Lust, und der Prinz wurde nicht müde, an der Hand der Königstochter umherzuwandern, denn jeden Tag zeigte sie ihm neue, wunderbare Dinge.

Der Boden des Saales war grüner Smaragd und durchsichtig bis in das Innere der Erde. Dort schlummerten Gräser und Blumen, und tiefer noch glomm heimliches Feuer. Die Wände waren aus rotem Golde mit schimmernden Bildern in vielfarbigen Edelsteinen eingelegt. Aus Gold waren die Wände, und über ihnen wölbte sich die Decke aus einem einzigen dunkeln Saphir geschnitten, mit silbernen Sternen reich übersät.

„Betrachte die Bilder“, sagte die Königstochter zu ihrem Gemahl. „Seit die Erde steht, haben die Menschen in mühsamer Sklavenarbeit daran geschafft. Viel Blut ist um sie geflossen. Mancher tauchte nach jenen schimmernden Perlen und kam nicht mehr zurück. Andere verschüttete das beraubte Gestein, da sie die edlen Metalle gruben. Jene Rubine sind Blutstropfen Tausender, die Hunger, Krankheit und Tod überfielen. Wochenlang reisten Karawanen durch Ägyptens Wüsten, um die Kostbarkeiten herbeizuschaffen, und die glühende Sonne mordete Mensch und Tier.“

Waren sie hungrig, so pflückten sie Früchte von einem riesigen Baum, in dessen dunklen Zweigen unzählige buntgefiederte Vögel sangen, oder sie schöpften sich einen Trunk aus den großen silbernen Becken, dessen Rand mit Türkisen eingefaßt und das von einer Quelle gespeist wurde, die in der Mitte in glänzendem Strahle hochauf sprang. Hier tummelten sich rote, blaue und gelbe Fischlein in munterem Spiele, und hoch auf der Spitze des aufsteigenden Wassers tanzte eine goldene Kugel. „Wer diese Kugel in Händen hält, hat den Tod überwunden“, sagte die Königstochter.

Einmal nun entdeckte der Prinz etwas Merkwürdiges, das er bisher noch nicht gesehen hatte. Mitten in allem Glanz und Reichtum stand eine kleine, armselige Fischerhütte. Ein schiefes, moosbewachsenes Dach bedeckte das graue, halbzerfallene Häuslein. Die trüben Fensterlein waren mit Spinnweben ganz überzogen, das dunkle Türlein geschlossen. „Was tut dieses alte Häuslein hier?“ rief der Prinz. „Danach solltest du nie fragen“, antwortete die Königstochter und schaute ihn traurig an. „Auch darfst du es nie betreten. In dem Augenblick, da du den Fuß über jene Schwelle setzt, wirst du aus dem goldenen Schloß gestoßen, und ich kann nicht länger dein Gemahl mehr sein.“

Da sah der Prinz die zwölf blinden Jungfrauen auf das Hüttlein zukommen und darin verschwinden.

Von da an hatte er keine Ruhe mehr. Alle Pracht und Herrlichkeit freuten ihn nicht, denn er war in Gedanken nur mit der wunderlichen Fischerhütte beschäftigt. Von Tag zu Tag schaute ihn die Königstochter trauriger an. Umsonst suchte sie seine Aufmerksamkeit auf den singenden Baum, den wunderbaren Brunnen und auf die prächtigen Bilder zu lenken. Immer wieder zog es ihn zu dem Hüttlein, vor dem er sinnend stand und zuschaute, wie die blinden Jungfrauen aus und ein gingen, und die Sehnsucht, es selbst zu betreten, wurde immer größer in ihm.

Da, eines Tages, konnte er nicht mehr widerstehen. „Koste es, was es wolle“, flüsterte er. „Ich muß wissen,was es damit für eine Bewandnis hat“, und er ging auf die Türe zu, die sich lautlos vor ihm öffnete, und trat ein. Er erkannte noch die zwölf blinden Mädchen um einen Tisch sitzen und an einem Fischernetz knüpfen, das gerade fertig war, da ertönte ein furchtbarer Donnerschlag, es wurde schwarze Nacht, und ein rasender Sturm fegte um die Hütte. Die Mädchen lösten sich in weißen Nebel auf und verschwanden vor den Augen des entsetzten Königssohnes. Ein zweiter, stärkerer Donnerschlag raubte ihm die Besinnung.

Es war Tag geworden. An einem großen Fluß trat ein armer Fischer aus seiner Hütte. Er blieb unter der niederen Tür stehen und fuhr sich mit der Hand über die Augen, als müsse er sich auf etwas besinnen. Dann schüttelte er den Kopf. „Ein furchtbarer Sturm hat in der Nacht gewütet“, murmelte er und starrte auf das schwarze Wasser, das noch jetzt mit den heranrollenden Wogen schneeweißen Schaum auf den Strand und bis vor seine Füße spritzte. Er schaute nach dem schiefen, moosbedeckten Dach, ob es keinen Schaden gelitten habe. Die trüben Fensterscheiben in dem halbverfallenen Häuslein waren mit Spinnweben ganz überzogen. Hinter dem Hüttlein begannen gleich steil aufragende Felsen, eine einzige Steinwildnis, über die keines Menschen Fuß je gelangen konnte.

Nachdem der Fluß ruhiger geworden war, holte der Fischer sein Netz, um sich seine tägliche Mahlzeit zu besorgen. Später briet er die wenigen Fischlein, die er gefangen, über dem offenen Feuer.

So verbrachte er Tage, Wochen und Jahre in großer Einsamkeit. Er flickte sein Netz oder saß stundenlang am Strand und schaute in dumpfer Traurigkeit auf das Wasser, über dem immer dichte Nebel lagen und ihm jede Aussicht auf das andere Ufer unmöglich machten. Nachts, wenn er müde, aber ohne Schlaf zu finden in seiner Hütte lag, war es ihm, als schlichen wilde Tiere um sein Haus, und oft glühte ein grünschillerndes Augenpaar durch das Fenster. Am Morgen war der Spuk verschwunden, aber wenn der Fischer zu den hohen Felswänden ging, um sich dürres Holz von den verwitterten Bäumen zu brechen, vermied er es, den dunklen Höhlen zu nahe zu kommen, die zahlreich und unergründlich in die Tiefe des Gesteins zu führen schienen.

Jahre vergingen, und er wurde alt. Sein Haar fiel in langen, weißen Strähnen bis auf die Schultern, und seine Kleider hingen ihm längst zerrissen vom Leibe. Seit einiger Zeit wagte er sich in einem selbstgebauten Kahn weiter auf den Fluß hinaus, um hier sein Netz auszuwerfen. Er fuhr oft bis in die dichte Nebelwand hinein, von dunkler Sehnsucht getrieben, aber dann bemächtigte sich seiner die Angst, nicht mehr zurückzufinden; er kehrte um und war erst ruhig, wenn er den festen Boden wieder unter den Füßen fühlte.

Einmal nun, da er in seinem Kahn stehend das Netz aus denn Wasser zog, fand er darin nur einen einzigen Fisch, der aber war aus glänzendem Gold. Erstaunt betrachtete er das zappelnde Tierlein und ruderte dem Ufer zu, seinen Schatz heimzubringen. Am Strand legte er das Netz und den Fisch, der sich noch immer bewegte, auf den Boden, um den Kahn an Land zu ziehen. Da nun der Fisch den Strand berührte, verwandelte er sich plötzlich in eine schöne Jungfrau, und der Fischer erkannte eines der zwölf blinden Mädchen. Die Jungfrau zog die Binde aus Schleierstoff von den Augen und blickte ihn traurig an. Dann wurde sie zu einem bunten Vogel, schwang sich hoch in die Lüfte, hinaus über den Fluß, und verschwand in der dichten Nebelwand. Dort aber, wo der Vogel durch den Nebel geflogen war, entstand im Gewölk ein Riß, und der Fischer konnte zum ersten Male etwas wahrnehmen, wie einen schmalen, grünen Streifen, das mußte das andere Ufer sein.

An diesem Tage blieb er hungrig, denn er pflegte nur einmal sein Netz auszuwerfen. Lange noch saß er vor seiner Hütte und schaute durch den winzigen Spalt, der nun in der finsteren Wand entstanden, die über dem Wasser lag, solange er denken konnte.

Am nächsten Morgen war es nicht anders. Er fing wieder einen goldenen Fisch, der sich in eine Jungfrau verwandelte, sobald er den Strand berührte, den Schleier von den Augen nahm und dann als ein bunter Vogel durch den Nebel verschwand, einen neuen, größeren Spalt hinterlassend. - Und so ging es fort, zwölf Tage lang. Zwölf Tage hatte der Fischer nichts gegessen, aber immer deutlicher erkannte er das ferne Ufer mit grünen Wiesen und üppigem Pflanzenwuchs, und er empfand große Freude. An dreizehnten Tage war er so schwach und müde geworden, daß er sprach: „Ich will noch einmal mein Netz auswerfen; wenn ich auch heute nichts fange, so wird es mein Ende sein.“

Doch er war darüber keineswegs traurig, denn der Gedanke, daß dieses elende Leben ein Ende haben würde, erfüllte ihn mit Glück und Zufriedenheit.

Aber er war zu schwach, um mit seinem Kahn hinauszufahren. So nahm er sein Netz und warf es vom Ufer aus über das Wasser. Es sank hinab, und als er es wieder anziehen wollte, merkte er wohl, daß es schwerer war wie bei den letzten Tagen. Nachdem er es mühsam an Land gezogen, fand er darin eine goldene Kugel, die er wohl erkannte. Sinnend nahm er sie in die Hände, und da fühlte er neue, junge Kräfte in sich strömen. Wie er nun seinen Blick über den Fluß schweifen ließ, sah er die Nebelwand mehr und mehr auseinandergleiten, und er schaute das ferne Ufer auf einmal klar und deutlich. Und siehe, am Wasser stand dort in aller Pracht und Herrlichkeit das Goldene Schloß, und der Wind trug eine süße Musik bis hinüber zu ihm. Großes Sehnen ergriff ihn, und er konnte nicht anders als darauf zugehen. Da glättete sich unter ihm das wogende Wasser, und eine goldene Bahn lief wie ein fester Steg von seinen Füßen bis hinüber, daß er ungefährdet wandern konnte.

Die goldene Kugel in den Händen, betrat er das Schloß, und die Königstochter kam ihm entgegen, schöner, als er sie je gesehen hatte. Wie sie ihn berührte, wurde er jung und gesund; neue, prächtige Kleider umgaben ihn, und sie führte ihn an der Hand in den großen Saal.

Wie erstaunte er da, denn dort stand die kleine Fischerhütte. Sie war ganz und gar aus Silber, und die Fensterlein blitzten wie die hellsten Kristalle.

Vor der geöffneten Türe hing das Fischernetz, aus goldenen Fäden geknüpft, und jeder Knoten war eine schimmernde Perle.

Die Vögel in dem großen Baum sangen jubelnd, und der Brunnen rauschte und murmelte wunderbare Geschichten. Auf seinem hochauf springenden Wasserstrahle tanzte wieder die Kugel.

Die ungezählten seligen Gestalten aber hatten sich an den Händen gefaßt und schritten im Kreise um den Prinzen und die Königstochter vom Goldenen Schlosse.