Der wunderbare Teppich

von Susanne Firgau

Umgeben von Wäldern, saftigen grünen Wiesen und Feldern lag eine Stadt, mit ihren kleinen Häuslein dicht an einen runden Berg gedrängt, wie die Küken sich um die Henne scharen. Rings um die Stadt führte eine hohe, feste Mauer, denn vor den Toren lauerte mancher Feind und Bullbanus, der böse Waldgeist, trieb es am schlimmsten mit seinen Trollen in den dunklen Wäldern, und manches wurde laut von seinen schrecklichen Überfällen auf brave Wanderer und fahrende Kaufleute. Auf dem Berg stand ein großes, behäbiges Schloß mit Türmen und vielen Erkerlein, und hier regierte der gute, alte König mit der Königin über seine Untertanen.

Alles wäre nun in bester Ordnung gewesen, wenn das Königspaar Kinder gehabt hätte. Dieser Wunsch war ihnen aber bisher nicht in Erfüllung gegangen, und die Sorge, daß er keinen Nachfolger habe, der nach seinem Tod die schwierigen Regierungsgeschäfte in die Hand nehmen konnte, ließ dem König oft keine Ruhe.

Einmal nun saß die Königin im Schloßgarten unter einem blühenden Apfelbaume. Da schwebten plötzlich drei wunderschöne Frauen in einer rosigen Wolke auf sie zu und sprachen: „Wenn dieser Baum wieder blüht, so wirst du ein kleines Kind bekommen“. Nun war große Freude im ganzen Schlosse. Der König aber rief gleich seine Minister und Räte zusammen, um sich von ihnen Vorschläge machen zu lassen, was er seinem Kinde bei der Geburt schenken solle, denn dies schien ihm von großer Wichtigkeit. Die braven alten Herren standen auch bald im Halbkreis vor ihm, in schwarzen Kleidern mit weißen Lockenperücken und schweren Silberketten auf der Brust, und der erste Minister hielt eine kleine Rede, nachdem er durch viele Bücklinge und Komplimente seine Diensteifrigkeit bekundet hatte.

„Mein hoher Herr und König“, begann er. „Das ist ein großes Glück für uns und die Stadt. Schon lange erfüllte es uns mit Sorge, was werden soll - Gott gebe Euch langes Leben - aber es könnte ja mal sein - und jedenfalls gibt es einen, der nur darauf wartet, daß hier nicht mehr alles ist, wie es sein soll. Immer wieder dringt furchtbare Kunde zu uns über das wüste Leben, das Bullbanus mit seinen Trollen führt. Erst neulich soll er lachend geäußert haben, die Zeit komme, da er König hier sein wird, und dann beginnt für ihn und seine Leute ein lustiges Leben. Aber nun brauchen wir keine Sorge mehr zu haben, denn euer Kind wird einmal mit starker Hand die Stadt vor den Überfällen dieses Gesindels schützen. - Doch was Ihr nun Eurem Kinde bei der Geburt schenken sollt, ist nicht so einfach zu entscheiden, aber wir wollen uns die größte Mühe geben, etwas Passendes zu finden ...“

Da hatten alle Ratsherren den Finger an die Nase gelegt, und die Minister ließen grübelnd die Köpfe hängen, weil ihnen nicht gleich etwas Gescheites einfallen wollte. Endlich meinte einer, ein hübsches Spielzeug sei doch das Richtige. Der nächste schlug darauf eine Kutsche mit vier Pferdchen vor, der dritte schöne Kleider, und so ging es fort. Aber nichts wollte dem König gefallen, denn es sollte etwas ganz Besonderes sein. Schließlich wurde er ungeduldig, hob die ganze Versammlung auf, und alle schlichen betrübt davon, denn sie liebten ihren Herrn und hätten ihm gerne geholfen.

Es war spät am Abend. Das Schloß lag längst in tiefster Ruhe, da pochte es ans Tor, und drei alte Weiblein begehrten Einlaß. Sie erklärten, auf der Durchreise zu sein, alle Herbergen in der Stadt aber waren überfüllt, und so hätten sie keinen anderen Rat gewußt, als im Schloß um ein bescheidenes Nachtquartier zu bitten. Der Pförtner, der ein gutes Herz hatte, ließ sie ein und wies ihnen im Pferdestall ein Winkelchen, wo sie auf weichem Heu gut schlafen konnten.

Am nächsten Morgen verlangten sie, vor den König geführt zu werden. Dieser saß auf seinem Throne und betrachtete die drei nachdenklich, die in grauen, zerrissenen Kleidern und staubbedeckten Schuhen vor ihm standen, eine immer häßlicher als die andere.

„Wir kennen deine Sorgen“, begann die Älteste mit dunkler Stimme, „und ich glaube, wir können dir helfen.“

„Wer seid ihr denn“, fragte der König etwas mißtrauisch. „Ich bin die geschickteste Spinnerin“, sagte die Erste. „Ich bin die beste Weberin“, die Zweite. „Und ich führe die Nadel wie keine sonst“, schloß die Dritte, „und wir denken, das einzig passende Geschenk für dein Kind ist ein Teppich, den wir bis zu seiner Geburt zusammen weben wollen, wenn du uns in deinem Schlosse aufnimmst und uns die oberste Dachkammer im alten Turme einräumst.“

„Ein Teppich?“ sagte der König. „Was soll mein Kind mit einem Teppich?“ „Es ist kein gewöhnlicher Teppich, den wir machen wollen“, antwortete die Älteste. „Er wird wunderbare Eigenschaften haben. Dein Kind kann erst darauf spielen; später wird es damit sein Glück machen, wenn es klug ist.“

Der König war einverstanden, und noch am selben Tage zogen die drei Alten in die kleine Dachkammer hoch oben im Turm. Hier begann nun ein emsiges Treiben. Der König ließ den feinsten Flachs herbeischaffen, und das erste Weiblein zog aus ihren Rockfalten ein winziges goldenes Spinnrad und spann den Faden so fein und glänzend, wie nie zuvor jemand gesponnen hatte. Die Zweite hatte ein goldenes Weberschifflein, damit begann sie einen schönen Teppich zu weben, und die Dritte nahm ihre spitze goldene Nadel zur Hand und stickte die wunderbarsten Blumen, Vögel und Tiere hinein. Sie schafften Tag für Tag fleißig und auch in der Nacht erlosch nie das Lichtlein in der kleinen Dachkammer.

Der Sommer verging. Der Herbst kam mit seinen Stürmen und wirbelte bunte Blätter in des Königs Garten umher, und dann hüllte der Winter Stadt, Schloß und Land in seine große, weiße Decke ein. Als aber im Frühjahr die ersten Blümlein ihre Köpfe aus dem Schnee streckten, gebar die Königin ein kleines Mädchen, das sehr neugierig auf die Welt war und darum zu früh kam. Der Teppich war noch nicht ganz fertig und der König darum recht böse auf seine kleine Tochter.

„Wir können nun nicht mehr länger bleiben“, sagten die drei alten Weiblein. „Unsere Arbeit ist nicht fertig geworden, und die Prinzessin muß sehen, wie sie den Teppich selbst vollendet, wenn sie groß genug ist. Wir schenken ihr unser Spinnrädchen, das Weberschifflein und die Nadel.“ Dann waren sie plötzlich verschwunden. Die drei kostbaren Dinge wurden in der Schatzkammer wohl verwahrt, und hier glänzten sie so hell, daß alle Perlen und Edelsteine daneben trüb und ohne Farbe erschienen. Die Prinzessin aber spielte bald auf dem Teppich und freute sich an allen bunten Blumen, Tieren und Vöglein. Nur eine Ecke war nicht fertig, und der König runzelte jedesmal gedankenvoll die Stirn, wenn sein Blick dorthin fiel.

Als die Prinzessin vierzehn Jahre alt geworden war, entstand eines Tages eine Unruhe in der Stadt, und die furchtbare Nachricht, daß Bullbanus mit einem mächtigen Haufen von Trollen anrücke, gelangte bald in das Schloss und vor den König. In Eile versammelten sich die obersten Generäle, Minister und Ratsherren.

Es wurde ein Heer aufgestellt, das dem Feind entgegenzog. Eine heftige Schlacht entbrannte vor der Stadt, und die tapferen Soldaten des Königs mußten sich nach kurzer Zeit geschlagen hinter die Mauern zurückziehen. Die Tore wurden geschlossen, und viele Tage und Nächte kämpften sie von den Wällen herab. Aber auch das nützte bald nichts mehr. Die Trolle schleppten schwere Steine herbei, die sie über die Mauer warfen, rissen ganze Bäume aus und rannten damit das Stadttor endlich ein. Vor Freude schreiend stürzten die wilden Horden, ihre Riesenknüppel schwingend, durch die Straßen hinauf zum Schloß. Dort verkrochen sich die Diener zitternd in alle möglichen Schlupfwinkel. Als aber Bullbanus mit lautem Gebrüll, von seinen Wilden gefolgt, den Thronsaal stürmte, fiel die Königin gleich tot hin vor Schreck und Angst. Der König wurde gefangen und abgeschleppt, und Bullbanus setzte sich lachend die Krone auf seinen dicken Kopf und sprang mit einem vergnügten Satz auf den Thron.

Um die Prinzessin hatte sich aber in der Aufregung niemand gekümmert. Sie zog in aller Eile Magdkleider an, rollte den Teppich zusammen, tat ihn in ihre Schürze und schlich sich in die Schatzkammer. Dort nahm sie das Spinnrädlein, das Weberschiffchen und die Nadel, denn die drei Dinge schienen ihr das Kostbarste, und dann eilte sie zum Tore, um im geeigneten Augenblicke zu entfliehen.

Inzwischen aber war auch Bullbanus in die Schatzkammer gelaufen, um sich am Anblick seiner Beute zu weiden. „Ich habe gehört, hier soll ein Spinnrädlein, ein Weberschifflein und eine Nadel sein“, rief er. „Das sind die wertvollsten Dinge, und ich muß sie zuerst betrachten.“ Aber niemand konnte diese drei Schätze finden. Nun begann ein emsiges Suchen im ganzen Schlosse. Bullbanus war wütend, tobte und schwor, jedem den Kopf abzuhauen, der im Verdacht stand, den Schatz geraubt zu haben. Die Tore wurden mit Wachen besetzt, und niemand konnte das Schloß verlassen, ohne durchsucht zu werden. - Wie die Prinzessin nun als arme Magd verkleidet hinaus wollte, wurde sie von den rohen Gesellen angehalten. Aber sie war ein kluges Mädchen und hatte die drei kleinen Kostbarkeiten unter ihr Kopftuch gebunden. Hier konnte sie niemand finden, und man mußte sie ziehen lassen.

Traurig verließ sie die Stadt und wanderte in die weite Welt. Als es dunkel wurde und sie müde war, legte sie sich in ein dichtes Gebüsch, befahl Gott ihre Seele und schlief ein.

In der Nacht erschienen ihr drei alte, freundliche Weiblein, die sprachen: „Nun ist die Zeit gekommen, daß du deinen Teppich fertig machst.“

Am andern Morgen zog sie weiter, um sich einen Dienst zu suchen. Sie wurde Magd bei einem Bauern, melkte die Kühe, nähte, flickte und putzte die Stuben. Als drei Jahre herum waren, erbat sie sich als Lohn ein Bündel Flachs, das wickelte sie zu ihrem Teppich in die Schürze und wanderte weiter, und immer weiter, viele Tage, bis sie eines Abends die Stadt und die Türme ihres Vaterhauses in der untergehenden Sonne blinken sah. Sie erreichte das Stadttor gerade, als der Pförtner schließen wollte. Der hielt sie für ein armes Mädchen und ließ sie ein. In der Dunkelheit schlich sie durch die kleinen, krummen Gassen und Sträßlein bis hinauf zum Schloß.

Das war hell erleuchtet, und als sie sich an eines der hohen Fenster stellte, sah sie Bullbanus mit seinen Trollen bei einem wüsten Gelage. Bullbanus saß auf dem goldenen Throne im Purpurmantel, die Krone auf den zottigen Ohren; die anderen drum herum schöpften mit Bechern aus einem großen Weinfaß, das auf demTische stand. Mitten im Saale brannte ein hohes Feuer, und darüber steckte ein ganzer Ochse am Spieße, von zwei Wilden beständig gedreht.

Bald war das Fest in vollem Gang, jeder schnitt sich ein Stück von dem Riesenbraten, und der Wein floß in Strömen über die Tafel hinab und auf den Boden.

Da holte die Prinzessin das Spinnrädlein unter ihrem Kopftuch hervor. Das schwebte davon und zu einem der offenen Fenster hinein, spann einen langen, langen goldenen Faden und kehrte zurück. Nun sandte sie das Weberschifflein aus. Diese fing den Faden ein und webte ein feines Netz, ganz dicht um die wilde Gesellschaft, die in ihrer Trunkenheit nichts davon merkte. Nachdem das Weberschifflein seine Arbeit getan, sprang die Nadel unter dem Kopftuch heraus, fuhr blitzschnell unter den wilden Gesellen umher und stach einen nach dem anderen tot. Die übrigen schrien entsetzt auf und wollten fliehen, aber das goldene Netz spannte sich so fest um sie, daß sie sich mehr und mehr hinein verstrickten und sich bald nicht mehr rühren konnten. Die Lebenden verwickelten sich mit den Toten immer fester in das feine Gespinst, und das ganze Gesindel rollte wie ein großer Knäuel im Saal umher. Dabei kamen sie mit ihren langen zottigen Pelzen der Glut zu nahe, fingen Feuer und mußten jämmerlich verbrennen. Aber auch der Saal brannte und bald das ganze Schloß. Eine riesenhohe Flamme schlug bis in den Himmel hinauf.

Die Prinzessin war schnell in die Stadt und von Haus zu Haus gelaufen und hatte alle Bürger geweckt. Da war große Freude überall, denn nun waren sie von den wüsten Gesellen, die in den letzten drei Jahren schrecklich gehaust hatten, befreit.

Als der Brand erloschen, war von dem ganzen Schloß nichts mehr übrig als ein wüstes Trümmerfeld auf dem runden Berg. Da ging die Prinzessin hinauf, breitete ihren Teppich auf den Boden aus und setzte sich auf einen der schwarzen Steine. Nun nahm sie das Spinnrädlein und spann den Flachs so fein, daß er wie Sonnenstrahlen glänzte, webte mit dem Weberschifflein den Teppich fertig, und dann stickte sie mit der Nadel bunte Vögel, Blumen und Tiere hinein. Die Leute aus der Stadt standen drum herum und schauten dem Wunderwerke zu. Sie arbeitete drei Tage und drei Nächte, und da war der Teppich fertig, so herrlich und köstlich, daß es nicht zu beschreiben ist. Die Vögel darauf fingen an zu singen und die Tiere zu sprechen. Die Bäume trugen Früchte, und die Blumen blühten und dufteten. Der Teppich wurde immer größer und breitete sich über den ganzen Berg aus. In der Mitte aber wuchs ein glänzendes Schloß empor, viel schöner und herrlicher, als das alte gewesen war.

Hier zog die Prinzessin ein, und bald kamen viele Königssöhne von nah und fern, um die kluge Königstochter und das neue Schloß auf dem wunderbaren Teppich zu sehen, der es wie ein großer Garten umgab. Dem Besten reichte sie ihre Hand, und die Hochzeit wurde in aller Pracht gefeiert. Mit ihrem Gemahl aber lebte sie viele Jahre in Glück und regierte mit Weisheit die Stadt.